Seriosität, Stabilität... und ein wenig Sturheit

Von dem bald ausbrechenden Ersten Weltkrieg war 1911 mitten in der Belle Époque noch kaum etwas zu spüren, und der Zweite Weltkrieg lag noch in viel weiterer Ferne. Die amerikanischen Gebrüder Wright hatten zwar schon acht Jahre zuvor den Grundstein zu einer sich rasch entwickelnden Luftfahrt gelegt, aber Automobil und Telefon hatten im Stadtbild und in Privathäusern immer noch Seltenheitswert. Im Bereich von Kunst und Kunsthandwerk stand man mitten im Spannungsfeld von Jugendstil, Spätimpressionismus, Nabis und Expressionismus. Der nachmalige Schweizer Nationalkünstler Ferdinand Hodler hatte soeben einige seiner bedeutendsten Monumentalwerke wie etwa den «Holzfäller» (1908) geschaffen, und Cuno Amiet machte als einziger Schweizer in der Dresdener Expressionistenvereinigung Brücke mit.

Wenn die Dramen und Umwälzungen der folgenden vierzig Jahre überhaupt spürbar waren, dann vielleicht in der Wissenschaft der theoretischen Physik, wo Max Plancks Quantentheorie und Einsteins spezielle Relativitätstheorie bisher festgefügte, gesicherte Erkenntnisse ins Wanken brachten.

Die Gründerväter des VSAK dürften von all dem aber wenig gespürt und erst recht nicht geahnt haben, welchen Aufschwung der Kunsthandel welt- und schweizweit in den kommenden 100 Jahren erfahren würde. Umso überraschender müssen uns heute die zum Teil ausgesprochen modern wirkenden Statuten vorkommen, die sich der Verband damals gab und die sich bis heute als durchaus tragfähige Grundlage und Richtschnur für die Verbandsarbeit erwiesen haben. Dass sie im Laufe der Jahre natürlich mehrfach überarbeitet, angepasst und durch all jene Usancen und Bestimmungen ergänzt werden mussten, in denen etwa die Verkaufsbedingungen mit Garantieverpflichtung, Schiedsgericht und Expertenkommission, Auktionswesen, Kommissionsgeschäften, Expertisen und Schätzungen geregelt wurden, hat ihren Kerngehalt tatsächlich wenig verändert.

In vielen anderen Ländern Europas hatten höfische und klerikale Strukturen zum Teil schon im 17. und 18. Jahrhundert bedeutende Sammler- und Kunsthandelstraditionen entstehen lassen. Dass sich die Schweiz trotz des Fehlens solcher Voraussetzungen und Vorläufer im 20. Jahrhundert dennoch zu einem Kunsthandelsplatz von internationalem Rang entwickelte, mag auf Anhieb ähnlich paradox erscheinen wie etwa der Aufstieg des Landes zu einem der bedeutendsten Finanzplätze der Welt. Bis zu einem gewissen Grad stehen hinter den Entwicklungen aber sogar die gleichen eidgenössischen Nationaltugenden, die ja nicht an eine schweizerische Herkunft geknüpft sind, sondern vielmehr einen Bestandteil der hiesigen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Strukturen darstellen und von den meisten Zuzüglern rasch übernommen werden.

Eine Hauptrolle spielt dabei zweifellos jene sprichwörtliche Seriosität, die den Schweizern zuweilen sogar den Vorwurf der Humorlosigkeit und der Langweiligkeit eintragen mag, die im Kunsthandel wie im Bankwesen aber gleichermassen unschätzbaren Wert besitzen. Nicht minder wichtig ist in diesem Zusammenhang die ausserordentliche Stabilität der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, die hierzulande den Aufbau genau jener kontinuierlichen Kunsthandelstradition ermöglicht hat, die andernorts durch die beiden Weltkriege oft weitgehend zerstört worden ist. Dazu gesellen sich schliesslich ein ausgeprägter natürlicher Sinn für Qualität in jeder Form sowie eine durch die Armut an eigenen Ressourcen bedingte Weltoffenheit und Aussenhandelsorientierung als weitere Voraussetzungen für die gedeihliche Entwicklung des Kunsthandelsplatzes Schweiz.