Versteckte Provenienzen

von Jean–David Cahn

Der Handel mit Antiken reicht weit zurück. Ein Bewusstsein für die Dokumentation entwickelte sich jedoch erst Ende des 20. Jahrhunderts. Daher ist die Rekonstruktion von Provenienzen zum Teil sehr mühsam. Oft erzählen die Objekte selbst von ihrer Geschichte.

 

Die Anforderungen an den Handel beruhen heutzutage in der Schweiz auf dem Kulturgütertransfergesetz (KGTG), das 2005 in Kraft trat, und dieses wiederum auf der Konvention der UNESCO von 1970. Diese Konvention will Kulturgüter schützen, die von nationalem Interesse sind, das heisst als prägend für das nationale kulturelle Selbstverständnis heutiger Staaten gelten. Meist sind die Gebiete antiker Kulturen in keiner Weise deckungsgleich mit den heutigen Staaten. Oft sind Monumente und Sammlungen in ihrer wechselvollen Geschichte für mehrere Nationen prägend. So können wir uns Venedig kaum ohne die in Konstantinopel geraubten Pferde vorstellen, und ebenso sind Obelisken prägend für das Selbstverständnis von Ägypten, Rom, London und Paris, um nicht andere Monumente zu erwähnen. Ganz selten wird diese exzeptionelle Kategorie von Objekten im Antikenmarkt gehandelt.

 

Der Antikenhandel, den es übrigens schon in der Antike gab, der aber als Königsdisziplin im Kunsthandel vor allem seit dem 18. Jahrhundert an Bedeutung gewann, steht seit den frühen 1990er-Jahren in einer wesentlichen Entwicklung, die das Streben nach Nachhaltigkeit und Sorgfalt verinnerlicht. Der Antikenhandel ist bestrebt, im Einklang mit diesen Bemühungen, geprägt durch die UNESCO-Konvention von 1970 und mit den heute weitverbreiteten Normen der Sorgfalt, wie sie allgemein von der Gesellschaft gefordert werden, zu arbeiten. Ähnliches sehen wir in ganz anderen Bereichen, wie beispielsweise in der Holzindustrie oder in der Lebensmittelindustrie.

 

Die Konvention entstand damals – im Laufe der späten 1960er-Jahre des letzten Jahrhunderts – als eine Reaktion auf die Zunahme von Raubgrabungen und Plünderungen aus Sorge um den Verlust der Geschichte von Kulturen, den Verlust von Kontext.

 

Es dauerte Jahrzehnte, bis sich die UNESCO-Konvention von 1970 allmählich in Europa durchsetzte. Sogar in der Welt der Archäologie nahm die Diskussion an Dringlichkeit erst in den späten 1980er-Jahren zu (Internationaler Archäologenkongress, Erklärung von Berlin 1988, Kongress ebenda 2003). Bis sie in nationale Gesetze umgewandelt und aufgrund der – wie später dargelegt – teilweise falsch interpretierten Weisungen des ICOM (International Council of Museums) auch in der Ankaufspolitik der Museen Realität wurde, dauerte es weitere Jahre. Durch die UNESCO-Konvention wurde der Blick für die Problematik der Raubgrabungen geschärft; das Bewusstsein der betroffenen Kreise für die Wichtigkeit der Dokumentation, das heisst das Aufbewahren von Rechnungen, Nachlasspapieren und Lagerdokumenten usw. aus anderen als buchhalterischen Gründen, entwickelte sich jedoch erst ab den frühen 1990er-Jahren. Noch bis ins Jahr 2005, bis zum Inkrafttreten des KGTG, mussten Rechnungen im Handel gemäss ZGB nur zehn Jahre und einen Tag aufbewahrt werden und wurden oft anschliessend vernichtet. Wie viele heute dringlich benötigte Unterlagen sind dabei verloren gegangen! Wie viele Koffer voll alter Rechnungen und Sammlungsunterlagen sind in Nachlässen und bei Räumungen in den öffentlichen Containern gelandet. Der Leser sei gefragt, ob er noch Unterlagen seiner Grosseltern oder gar ältere verwahrt hat. In der Regel nicht, und genau hier liegt das Problem. Eine grosse Zahl von Antiken, die seit Generationen in privaten oder öffentlichen Händen sind, weist eine aus heutiger Sicht ungenügende Dokumentationslage auf. Insofern sind Forderungen der ICOM nach lückenlosen Provenienzen, gar bis zur Auffindung des Objektes, realitätsfremd und können oft nicht einmal von der Mehrheit ihrer eigenen Mitglieder, der Museen, erfüllt werden. Der Zufall und das Glück wollen es, dass aufwendige Recherchen manchmal die Rekonstruktion ehemals verloren gegangener Provenienzen erlauben. Dabei wird fälschlicherweise davon ausgegangen, dass nur schriftlich dokumentierte Provenienzen als Grundlage und Beweis dienen. Oft geht dies jedoch nur über zufällig gefundene historische Fotografien, ausnahmsweise auch über gute Zeichnungen.

Weithin wird dabei allgemein übersehen, dass viele Objekte die Beweise ihrer alten Geschichte auf sich tragen: Anstückungen, Restaurierungen, Ergänzungen, die zum Teil bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen, Ergänzungen von Nasen, Ohren, Geschlechtsteilen in sorgfältig bearbeitetem Marmor, die heute kaum mehr anzufertigen sind. Historische Restaurierungen sind aufgrund ihrer Materialien und ihrer Patina äusserst schwer zu fälschen. Diese Objekte wurden zu einer Zeit entdeckt, als es keine wissenschaftlichen Grabungen gab und Kontext ein absolutes Fremdwort war. Sie stehen damit seit jeher ohne Kontext im heutigen Sinne da. Es gibt keinen überzeugenden Grund, warum solche Objekte nicht handelbar sein sollten und moderne Grenzen überqueren dürfen. Es sei denn, sie sind von überragender nationaler Bedeutung für das Selbstverständnis der modernen Kulturnation. Die gesetzlichen Bestimmungen zielen auf die Verhinderung von Kontextverlust, dem Verlust von Informationen, die wir seit der jüngeren Entwicklung der Archäologie aufgrund neuerer Methoden überhaupt erst lesen können. Der Einfluss der Ur- und Frühgeschichte, der Anthropologie und der Sozialwissenschaften, der die Archäologie der letzten vierzig Jahre zu einer ebenfalls kontextorientierten Wissenschaft geformt hat, führt natürlich dazu, dass die Vereinzelung eines Objektes einen kontextuellen Informationsverlust bedeuten kann. Das heisst aber nicht, dass dieses Objekt, wie so oft oberflächlich behauptet, für die Wissenschaft verloren ist. Viele bildliche Informationen sind am Objekt selbst erhalten. Der Verlust betrifft nur bestimmte kontextbezogene Fragen einer gewiss nützlichen Ausrichtung der Archäologie. Für ikonografische, technische und kunstgeschichtliche Fragestellungen hat ein Objekt ohne Kontext keineswegs an wissenschaftlichem Wert verloren. Dies zeigen die zahllosen Museumspublikationen und Forschungen der klassischen Archäologie der letzten Jahre. Natürlich gehören Raubgrabungen, Metalldetektoren usw. verhindert. Aber ebenso gehört verhindert, dass offizielle Grabungen nicht publiziert werden oder dass Material aus nationalen Egoismen heraus der wissenschaftlichen Gemeinschaft nicht zugänglich gemacht wird, wie dies zum Beispiel von der durch die UNESCO 1998 in Nikosia veranstalteten Konferenz zum Thema der unpublizierten Grabungen thematisiert wurde. Der Verlust von Kontext durch mangelnde Verantwortung und Schlamperei ist genauso tragisch. Wie der führende englische Archäologe und Ausgräber Sir John Boardman formulierte, ist jede Grabung das Lesen eines Geschichtsbuches, wobei beim Lesen Seite um Seite verbrannt wird. Deshalb ist die Dokumentation einer Grabung von so zentraler Bedeutung. Wohin die einschränkende Interpretation der UNESCO-Konvention von 1970 führt: Es gibt zahlreiche Objekte auf dem Markt, die keine schriftlichen Dokumente älterer Generationen mit sich führen. Die überaus enge Interpretation der Konvention führt in solchen Fällen leider genau zum Gegenteil des beabsichtigten Resultats: Sie führt zu einer fatalen künstlichen Verknappung des Marktes. Objekte mit Spuren alter Sammlungsgeschichte, die völlig legitim die Nachfrage befriedigen könnten, werden abgedrängt, die Nachfrage besteht aber weiterhin. Wie viele rechtlich einwandfreie Objekte aus Nachlässen werden somit dem musealen Markt aufgrund einer von der Konvention gar nicht beabsichtigten Auslegung entzogen? Es ist, als ob altes Tropenholz oder Pelze verbrannt würden, statt diese zu rekonfektionieren. Es ist unrealistisch, Dokumentationen von Provenienzen vor 1970 beziehungsweise 1972 zu fordern, als es die Konvention noch gar nicht gab. Und erst 1993, 23 Jahre später, trat die europäische Direktive in Kraft (Council Directive 93/7/EEC 15. März 1993). Hier sollte es eine vom ICOM veranlasste Zusatzklausel geben, die es den Museen und Stiftungen ermöglicht, im Falle historischer Restaurierungen ohne schriftliche Dokumentation vor 1970 (beziehungsweise 1972: Inkrafttreten der UNESCO-Konvention beziehungsweise 1993) einen Ankauf tätigen zu können. Das Fehlen schriftlicher Dokumente vor 1970 oder anderer Stichdaten trotz nachweislicher alter Restaurierungen hält zunehmend die an ICOM angeschlossenen Institutionen von Ankäufen ab. Typisch ist das Beispiel des Gründungspräsidenten der IADAA1, James Ede, Händler in zweiter Generation, der vor Jahren eine englische Sammlung von etwa 10 000 ägyptischen Antiken, meist ohne grosse Bedeutung, erwarb. Diese kamen mit einer ägyptischen Lizenz von 1947 einher, die folgendermassen lautete: “Thirty cases of antiques.” Es ist der reine Zufall, dass in diesem Fall die Lizenz erhalten blieb. Ich zitiere aus seinem Vortrag: “It is remarkable that the piece of paper survived at all; in the vast majority of cases no paper trail exists. Even the British Museum admits that it has no paperwork of any kind for the bulk of its collection.”2

Restriktive Ansätze einiger Exponenten der Archäologie – bei Weitem nicht aller – und den dementsprechend beeinflussten Administrationen, alles zu verbieten und gar den Besitz und den Handel von Antiken als unmoralisch zu brandmarken, führen in eine wenig konstruktive Sackgasse. Diese Prohibition führt nur zu einer Kriminalisierung und stärkt gesetzlosen Kräften das Rückgrat. Gerade dort, wo die Repression am grössten ist, grassieren in aller Regel auch für den Handel, die Museen und die Sammler die unerwünschtesten Zustände. In Kürze: Eine präzise, ausgewogene Exportpolitik betreffend die Handelsware Antike unter angemessener behördlicher Kontrolle verhindert das Entstehen eines illegalen Marktes. Solange jedoch gewisse Staaten auf einer fast hundertprozentigen Restriktion bestehen, bleibt das Problem virulent. Es braucht Einsicht, diesen Schritt zu tun und die notwendigen Änderungen in Angriff zu nehmen. Gewisse Staaten wie Grossbritannien oder Frankreich führen uns dies in vorbildlicher Weise vor. Die drei folgenden Beispiele veranschaulichen in typischer Weise, dass Provenienzen vorhanden sein können, aber sich versteckt halten:

Graburne der Claudia Atlante

Graburne der Claudia Atlante, römisch-severisch, um 200 n. Chr., Marmor, H. 37 cm

Versteigert bei Christie’s, London, 28. April 2009, Lot 212, mit folgender Angabe: “Acquired by the present owner’s father before 1946.” Zahlreiche Restaurierungsspuren verwiesen auf eine noch ältere Provenienz. Recherchen ergaben, dass die Urne vor 1886 in Lowther Castle bei Penrith stand. Davor stand sie in den Horti lustiniani in Rom. Das Stück war 1886 im CIL3 publiziert worden. All diese Informationen waren vor der Auktion nicht bekannt.

Kopf des Odysseus, römisch, spätes 1. oder frühes 2. Jh. n. Chr., Marmor, H. 49,5 cm

Verkauft im französischen Kunsthandel in Paris. Schriftliche Dokumentationen lagen nicht vor. Das Objekt zeigte jedoch Ergänzungen des späten 18. Jahrhunderts. Recherchen ergaben, dass der Kopf vom Maler Johann Jacob Tischbein (1751–1829) mehrmals gemalt worden war und sich seit dem späten 18. Jahrhundert im Besitz von Frederick Hervey, dem vierten Earl of Bristol und Bischof von Derry (1730–1803), befand.4.

Kopf des Odysseus

Kopf eines Kindes, römisch, 3. Viertel 1. Jh. v. Chr., Marmor, H. 24 cm

Angeboten zur Auktion in London bei Bonhams, 28. Oktober 2009, Lot 228, mit der Angabe “Property of an American private collection. Acquired by the present owner’s father in the 1930s.” Das Objekt wies klare Restaurierungsspuren des 19. Jahrhunderts auf. Recherchen ergaben, dass der Kopf mehrfach publiziert war und dass er aus dem Familienbesitz der Münchner Bankiersfamilie Beroldsheimer stammte und von Sieveking 1906 publiziert worden war.5

In allen drei Fällen wurden schriftliche Nachweise in Form historischer Publikationen, Fotos oder Zeichnungen gefunden. Meistens ist dies jedoch nicht der Fall. Die Restaurierungen aber sprechen für sich und bleiben vorläufig stumme, aber aussagekräftige Zeugen einer langen Sammlungsgeschichte. Es ist deshalb wünschenswert, dass das Thema der «verlorenen Provenienz» erkannt wird und Eingang in die Richtlinien findet.

1 International Association of Dealers in Ancient Art

2 Ede Restitution and the Art Trade – The Problem of Orphans, Vortrag. April 2010.

3 Corpus Inscriptonum Latinarum, Bd. VI,3, Berlin 1886, Urbs Roma, Nr. 15320

4 FAZ vom 18.9.2007

5 Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 1, 1906, S. 151